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Warum ist der Pessach-Seder in diesem Jahr anders als alle anderen Sedarim?

von Rabbinerin Natalia Verzhbovska

Der Krieg in der Ukraine hat jede jüdische Gemeinde und jede jüdische Familie in Deutschland direkt oder indirekt getroffen. Verwandte und Freunde, Bekannte und Fremde, die unsere Hilfe benötigten und / oder vor unseren Türen standen, haben unseren Alltag seit einem Jahr radikal verändert. Wir beobachten derzeit, dass nicht nur die Flüchtlinge aus der Ukraine, die Schutz in unserem Land suchen, sondern auch viele Mitglieder der jüdischen Gemeinden, die ihre Unterstützung für die neuangekommenen Menschen und ihre Familienangehörigen anbieten, emotional stark belastet sind und mitunter eine innere Krise erleiden. Am Pessach-Abend sammeln wir uns traditionell rund um eine festlich-gedeckte Tafel und danken bewundernd dem Allmächtigen für unsere Rettung. Aber welche Bedeutung hat der Seder mit seiner Geschichte der Befreiung heute für uns? Wie kann man sich mit seiner Geschichte identifizieren, wenn man sich wie eine Geisel aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit fühlt?

Eine mögliche Antwort auf diese Fragen könnte die Haggada selbst in ihrer einzigartigen Form der Erzählung sein, denn sie ist im Kern selbst eine Botschaft der Hoffnung. Sie ist eine facettenreiche, vielseitige Erzählung über die Helden unserer Geschichte, die in ihrer Generation trotz Überwindung von Schwierigkeiten die Hoffnung auf die Befreiung von der Tyrannei, den Glauben an das Gute, an die Menschen und an die Barmherzigkeit niemals verloren haben. Die Text der Haggada inspiriert Juden und Jüdinnen seit Jahrhunderten. Heute, wie auch in vergangenen Zeiten spricht sie zu uns durch die Stimmen ihrer Helden. 

In der Haggada erfahren wir von unserem Vorvater Abraham, der seine Heimat verließ, um die Kraft der göttlichen Verheißung und Schutz für sich und für die folgenden Generationen zu entdecken; seinem Enkel Jakob, dem alle Bitterkeit des Lebens in einem fremden Land bekannt war, und natürlich von der Generation derer in der ägyptischen Sklaverei, die alle Strapazen der Überarbeitung und Vernachlässigung ihrer menschlichen Bedürfnisse durchlitten hat. Hier finden wir auch unsere jüdischen Weisen, die viele Jahrhunderte nach dem Auszug aus Ägypten lebten und ihren Seder in Jerusalem heimlich feiern mussten, aus Angst vor der Verfolgung des Kaisers Hadrian. Hinzu kommen die vier symbolischen, fragenden Kinder, die in keinerlei historischem Zusammenhang stehen, aber jeweils die Einstellung zu Tradition und Geschichte ihres Volkes verkörpern. Seite für Seite gehen wir von einer Geschichte zur nächsten über, und Schritt für Schritt empfinden wir die Dramaturgie der haggadischen Erzählungen nach: In einem Moment treten wir mit Abraham ins Unbekannte ein, im nächsten lernen wir die Vorschriften von Rabban Gamliёl über den Ablauf des Pessach-Seders. Sind wir eines der vier fragenden Kinder, welche die Haggada erwähnt, oder finden wir in jeder der Fragestellungen etwas in uns wieder? Wir vollziehen die zahlreiche Rituale: wir brechen Mazza, wir spüren die Bitterkeit des Maror auf unseren Lippen, wir lassen Wein auf den Teller tropfen. Durch sie schenken wir der Hoffnung, welche nur als zarte Empfindung in unserer Seele weilte, Geschmack und Geruch, Farbe und Umriss, sie wächst und wird greifbar bis zu dem Moment, an dem die Hoffnung zu unserer Lebenserfahrung wird, so wie es uns die Haggada vorschreibt:

In jeder Generation soll der Mensch sich betrachten, als sei er selber aus Ägypten ausgezogen. […] Nicht nur unsere Vorfahren hat Gott – Gottes Heiligkeit sei gepriesen! – erlöst, sondern mit ihnen erlöst Gott auch uns. […] Deshalb sind wir verpflichtet, Dir für all die wunderbaren Taten zu danken, die Du für unsere Vorfahren hast und die für uns tust. […] Du führst uns aus der Knechtschaft zur Freiheit, aus Zeiten der Not zur Freude, aus Zeiten der Trauer zu einem Festtag und aus der Finsternis zum Licht.
(aus der Pessach-Haggada)


Vielleicht ist genau das die Geheimbotschaft des Pessach-Seder. Es wird denen Hoffnung gegeben, die sie schon fast verloren hatten. Man muss jedwede Anstrengung unternehmen, um sich von den Fesseln der Angst und Hilflosigkeit, die die Seele und Herz binden, zu befreien, um sich selbst „als Befreite aus der Ägypten“ fühlen zu können. Dazu kann die Kraft der Symbolik genutzt werden, so wie es in der Tradition der marokkanischen Juden vollzogen wird, welche den Seder-Teller über den Kopf halten und sich als Befreite von der Sklaverei erklären; оder man kann der Empfehlung der chassidischen Gelehrten folgen, die sagen, dass man den heiligen Funken des Lichtes im Herzen stärken muss, unabhängig davon, wie tief man sich in der Verzweiflung gefangen fühlt. Es scheint, dass die Verfasser der Pessach-Haggada bewusst die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit verschwimmen lassen haben, damit auch wir die Hitze der Wüste und die Erleichterung über das gespaltene Meer selbst nachempfinden können. Gemäß Rabbiner Yaakov Medan, Co-Leiter von Yeshivat Har Etzion in Israel, haben die jüdische Gelehrten dieses Gebot ganz deutlich an die Gegenwart gerichtet, damit es zum Schlüssel des Verständnisses von heute und jetzt wird:

Es scheint jedoch, dass die Weisen das von ihnen selbst formulierte Prinzip – „In jeder Generation ist ein Mensch verpflichtet, sich so zu betrachten, als ob er aus Ägypten gekommen wäre“ – nicht so erklärt haben, wie wir es heute zu erklären pflegen. Um dieses Gebot zu erfüllen, ziehen einige von uns alte Kleider an und  stellen sich vor, wir leben vor mehr als dreitausend Jahren, zur Zeit des Auszugs aus Ägypten. Mir scheint, dass Chasal diese Aussage ähnlich den Propheten deuteten: Ein Mensch muss in seiner eigenen Generation weiterleben und sich angesichts der Herausforderungen seiner eigenen Generation mit der Erlösung Israels beschäftigen, aber er muss die Ereignisse seiner Zeit im Lichte der Ereignisse des Auszugs aus Ägypten und seiner Umgebung deuten. (Harav Yaakov Medan „The Story of the Five Tanna’im“ (eigene Übersetzung auf Deutsch), URL: https://etzion.org.il/en/holidays/pesach/story-five-tanna’im (Stand: 26.02.2023)

Die Haggada in ihrer vielschichtigen Deutung der Geschichte des Auszugs aus Ägypten ist eine Botschaft der Hoffnung, die unser Volk von Generation zu Generation bewahrt und weitergegeben hat. Diese Botschaft ruft uns auf, auf der Seite des Guten zu stehen, eine aktive Lebenseinstellung beizubehalten und für Menschenwürde und Frieden zu kämpfen. Wir dürfen dem bösen Pharao, den wir in den Gesichtern der grausamen und prinzipienlosen Politiker, die weder das Leben der anderen noch das Leben ihres eigenen Volkes verschonen, wiedererkennen, keine Chance geben, uns dieser Hoffnung zu berauben.

Mögen unseren Sedarim in diesem Jahr besonderer Trost sein für alle, die an den Folgen der Militärkonflikte leiden und ihnen seinen Segen spenden.

Alle, die hungrig sind, sollen kommen und essen.
Alle, die Mangel leiden, sollen kommen und mit uns feiern…
(aus der Pessach-Haggada)


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